Heidelberger Hybrid-Eidechsen: Eine Parabel maßlosen Umweltschutzes?
Heidelberg. Die Mauereidechse wird gerade einmal maximal 22 Zentimeter lang und wiegt höchstens 10 Gramm – in der Heidelberger Lokalpolitik aber ist sie seit geraumer Zeit ein echtes Schwergewicht. Und nicht nur hier: Überall in Baden-Württemberg bereiten die kleinen Reptilien den Verwaltungen bei städtebaulichen Planungen Kopfzerbrechen. Um das zu verstehen, muss man den Blick über den regionalen Tellerrand hinaus schweifen lassen und den Scheinwerfer zunächst auf Brüssel richten. Dass die Mauereidechse nämlich strengsten Schutzstatus genießt, ist im europäischen Recht verankert. Genauer gesagt in Anhang IV der sogenannten FFH-Richtlinie der Europäischen Union (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, Richtlinie 92/43/EWG). Damit unterliegt sie auch in Deutschland gemäß Bundesnaturschutzgesetzt (BNatSchG, § 7, Abs. 2 Nr. 7f) dem strengen Artenschutz. Das gilt natürlich auch für Heidelberg.
Mittlerweile über 11.000 Mauereidechsen rund um die Bahnstadt
Soweit die Vorgeschichte. „Berühmt“ geworden ist die Heidelberger Mauereidechse vor über 15 Jahren. Damals – in den Jahren 2008 und 2009 – war vor der Erschließung der Bahnstadt auf dem Areal eine große Population geortet, eingesammelt und gemäß geltender EU- und nationaler Gesetzesvorgaben auf Ausgleichsflächen im Umfeld des neuen Großbaugebiets gebracht worden. Rund 3500 Reptilien wurden damals gezählt. Die Hoffnung war, dass sich die Mauereidechsen auf den Ausgleichsflächen wohlfühlen und dort heimisch werden. Diese Hoffnung hat sich mehr als erfüllt: Mittlerweile schätzt Dr. Sandra Panienka, beim städtischen Umweltamt zuständig für Natur-, Artenschutz und Biodiversität, dass rund um die Bahnstadt über 11.000 Mauereidechsen ihr Dasein genießen. Wohlgemerkt nur rund um die Bahnstadt – im gesamten Stadtgebiet dürften es ungleich mehr sein.
Schon mehr als 10 Millionen Euro für Umsiedlungsmaßnahmen
Die fachgerechte Umsiedlung der Reptilien ist im Übrigen ein enormer Aufwand. Und ein kostspieliger. Allein die „Bahnstadt-Echsen“ haben das Stadtsäckel in den zurückliegenden Jahren mit stolzen 7,7 Millionen Euro belastet. Für alle Umsiedlungsmaßnahmen der zurückliegenden Jahre im Stadtgebiet ist die 10-Millionen-Marke längst überschritten. Geld, das an anderer Stelle (Stichwort: Schulen, Kindergärten etc.) fehlt. Eine dreistellige Zahl an Vollzeitstellen im sozialen oder Erziehungsbereich wären dafür drin. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Für den notwendigen Gleisausbau zwischen Heidelberg und Mannheim müssen genauso Mauereidechsen eingesammelt und Ausgleichsflächen geschaffen werden wie für den Neubau der Gneisenaubrücke. Aktuell zudem im Zuge der Planung der Kita Harbigweg in Kirchheim, wo ebenfalls eine Umsiedlung nötig sein dürfte. Immerhin: Die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Gleisausbau Richtung Mannheim müssen von der Bahn getragen werden – beziehungsweise vom Bund als Eigentümer des Schienennetzes. Damit belasten sie zwar nicht direkt die Heidelberger Stadtkasse, Steuergelder werden aber doch fällig.
Richtwert: 80 Quadratmeter für eine Mauereidechsen-Familie
Die notwendigen Ausgleichsflächen sind übrigens auf den ersten Blick auch nicht gerade sparsam bemessen: Bis zu 80 Quadratmeter pro männlicher Mauereidechse gelten als Richtwert des von Ministerin Thekla Walker (Bündnis 90/Die Grünen) geführten baden-württembergischen Umweltministeriums – immerhin teilt sich das Männchen die Fläche in der Regel mit einem Weibchen und dessen Nachwuchs. Zum Vergleich: Wer in Heidelberg mit einem Wohnberechtigungsschein öffentlich geförderten Wohnraum bezieht, dem stehen 45 Quadratmeter, zwei Personen zusammen 60 Quadratmeter zu. Das Verhältnis kann man in Frage stellen. Wobei Thomas Merz relativiert: „Der Mensch hat im Vergleich zur Eidechse natürlich viel mehr Platz als nur seine Wohnung, wenn er sich im öffentlichen Raum bewegt. Das ist also ein Stück weit Äpfel mit Birnen verglichen“, meint der Diplom-Biologe aus dem rheinland-pfälzischen Weiler bei Bingen. Ein kleines „Geschmäckle“ bleibt aber doch erst einmal.
„Eidechsen-Chaussee:“ Risiko für Radfahrer und Fußgänger
Und das weitet sich bei genauerem Hinsehen sogar zum waschechten Geschmack aus. Denn zumindest in der Bahnstadt entwickeln sich die Eidechsen bzw. deren Ausgleichsflächen mehr und mehr zum Sicherheitsproblem. Im Fokus: Der Rad- und Fußweg, der über die Brücke in die Bahnstadt führt und im Volksmund schon halb lächelnd, halb kopfschüttelnd „Chaussee der Eidechsen“ genannt wird. Er ist stark frequentiert und dafür viel zu schmal. Täglich wird er allein von rund 6000 Radfahrern genutzt – nicht selten kommt es zu gefährlichen Beinahe-Kollisionen mit Fußgängern oder Rollstuhlfahrern. Eine Verbreiterung ist aufgrund der angrenzenden Echsen-Ausgleichsflächen aber nicht möglich. Kritiker können sich die Frage, ob zum Artenschutz nicht auch der Mensch gehört, an dieser Stelle kaum verkneifen. Abgesehen davon: Auch Eidechsen selbst werden auf dem engen Terrain häufiger überfahren.
Welche Arten sind überhaupt schützenswert?
Aber es kommt noch besser – obwohl besser nicht der richtige Ausdruck ist. Es wird eher komplizierter. Heftig umstritten, auch in Expertenkreisen, ist nämlich die Frage, welche Arten oder Unterarten der Mauereidechse denn wirklich geschützt werden müssen. Vereinfacht dargestellt: Es gibt in Deutschland, überwiegend im Südwesten, tatsächlich heimische, sogenannte autochthone Mauereidechsen, die zur Unterart „Podarcis muralis brongniardii“ zählen. Und es gibt „Eindringlinge“, die sich auch in Baden-Württemberg infolge von Verschleppungen und Aussetzungen etabliert haben, teilweise wurden sie auch durch den Güterverkehr oder Urlaubsreisende über die Jahre unbemerkt eingeschleppt. Die Folge: Der Bestand der heimischen Mauereidechsen wird durch die Einwanderer, auch invasive Arten genannt, gefährdet. Sie vermehren sich schneller und vermischen sich mit den „Ureinwohnern“, es bilden sich sogenannte hybride Arten. Und jetzt entfacht sich schon fast ein Glaubenskrieg: Sind hybride Arten genauso schützenswert wie die ursprünglich heimischen Mauereidechsen?
Der rheinland-pfälzische Weg: Nur heimische Mauereidechsen schützen
Die europäische Rechtslage jedenfalls trifft keine Unterscheidung und schützt zunächst einmal per se alle Mauereidechsen. Sie lässt aber Raum für Interpretationen. Rheinland-Pfalz beispielsweise hat eine eigene Lesart definiert: „Neben der in Südwestdeutschland heimischen Ostfranzösischen Linie (Unterart: Podarcis muralis brongniardii) gibt es auch Individuen, die einer anderen Herkunftsregion entstammen und deren Vorfahren durch gezielte Aussetzung oder ungewollte Verschleppung in unsere Region gelangten. Die gebietsfremden Mauereidechsen können zur Verdrängung der gebietsheimischen Tiere führen oder, im Falle der Paarung, zu einer Durchmischung und sukzessiven Verdrängung des Erbgutes der hier ursprünglich beheimateten Sippe“, hat das rheinland-pfälzische Landesamt für Umwelt erkannt und schon 2021 folgende Handlungsempfehlung ausgesprochen: „Der strenge gesetzliche Artenschutz gilt nur für Mauereidechsen der heimischen Unterart in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet. Gebietsfremde (allochthone) Mauereidechsen werden als invasiv angesehen. Für diese sind bei der Realisierung einer Planung keine besonderen Schutzmaßnahmen zu treffen, um eine weitere Verbreitung der nicht heimischen Unterarten der Mauereidechse zu verhindern bzw. einzudämmen. Ziel ist es, die heimische Unterart (Ostfranzösische Linie) zu schützen.“
In Heidelberg leben fast nur noch hybride Arten
Von heimischer Unterart kann übrigens in Heidelberg kaum noch gesprochen werden. Fast alle Mauereidechsen sind mittlerweile hybrid, also „Mischlinge“ zwischen heimischen und eingewanderten Reptilien. Das haben jedenfalls die aufwendigen DNA-Tests ergeben, die die Stadt im Rahmen der großangelegten „Bahnstadt-Umsiedlung“ in Auftrag gegeben hatte – für immerhin 75 Euro pro Stück. Dafür wurden die Eidechsen tatsächlich eigens einzeln eingefangen, um ihnen ganz vorsichtig Speichelproben zu entnehmen. Baden-Württemberg allerdings hat den rheinland-pfälzischen Weg, der auch in ähnlich auch Bayern beschritten wird, noch nicht betreten. Hier – und damit auch in Heidelberg – gilt: Mauereidechse ist Mauereidechse, der Schutz der heimischen Population wird damit ad absurdum geführt. „Was sollen wir machen?“, fragt Dr. Sandra Panienka vom Umweltamt: „Auch hybride Arten sind zunächst einmal schützenswert. Um daran etwas zu ändern, müsste die EU-Kommission entsprechende Richtlinien erlassen. Man sollte hybride Arten auf jeden Fall nicht aktiv verbreiten. Es gilt, bessere Regelungen zu finden, die den Tieren dienen, aber Tierschutz und wirtschaftliche Aspekte auch in Einklang bringen.“ Neu ist das Thema in all seinen teilweise seltsamen Facetten nicht, der mehrheitlich grün-rot-rote Gemeinderat hat sich allerdings nicht gegen alle bisherigen Maßnahmen gestellt oder die Vorgaben aus Stuttgart oder Brüssel zumindest einmal hinterfragt.
Teile des Gremiums bringt das Thema mittlerweile allerdings auf die Palme. Die CDU-Fraktionsvorsitzende Nicole Marmé nimmt die Landesregierung und speziell das grüne Umweltministerium in die Pflicht: „Wir haben hier in Heidelberg alles richtig gemacht, haben uns an die Gesetzte von Bund und Land gehalten“, betont sie. Die einheimischen Arten zu schützen, stehe außer Frage. „Wir sind aber inzwischen an einem Punkt, an dem wir hybride Arten schützen müssen, die sogar unsere heimischen Arten bedrohen. Das ist absurd.“ Dass nach den aufwendigen DNA-Tests der Landesregierung mitgeteilt wurde, dass es sich bei den betroffenen Eidechsen in erster Linie um die hybriden Arten aus einheimischen und zugewanderten, invasiven Arten handelt, wäre aus Stuttgart damit abgetan worden, dass der Flächenbedarf für diese von 80 Quadratmetern, die für rein einheimische Eidechsenarten gefordert werden, auf 50 Quadratmetern reduziert wurde. „Das ist lächerlich“, findet die CDU-Fraktionsvorsitzende klare Worte und legt den Finger in die Wunde: „Hier wird mit einem ungeheuren Finanzaufwand Umweltschutz ad absurdum geführt und unsere schützenswerten Eidechsen werden sogar gefährdet.“ Und Nicole Marmé rechnet vor: „Die rund 10 Millionen Euro, die die Stadt Heidelberg bislang für das Thema Eidechsen aufwenden musste, würden uns an anderer Stelle enorm helfen. Dieses Geld könnten wir sehr gut gebrauchen. Damit könnten auch zahlreiche Personalstellen im sozialen Bereich geschaffen werden.“
Für „Die Heidelberger“-Fraktionsvorsitzende Larissa Winter-Horn geht das Thema auch weit über die Bahnstadt hinaus – sie hat mit ihrer Fraktion insbesondere den Bahnausbau Heidelberg – Mannheim im Blick. „Entlang der Strecke sollen rund zehn Hektar landwirtschaftliche Fläche geopfert werden, damit dort Ausgleichsflächen für Eidechsen entstehen.“ Dass einem Landwirt durch den Verlust von Feldern die Erwerbsgrundlage entzogen werden soll, ist für Larissa Winter-Horn inakzeptabel: „Er kann sich dann noch um die Eidechsen kümmern, aber kein Getreide mehr anbauen.“ Dabei will die Fraktionsvorsitzende den Umweltschutz und damit auch die Eidechsen gar nicht aus den Augen verlieren. „Aber dazu ist es notwendig, Dinge zusammen zu denken, das große Ganze zu sehen“, betont sie: „Derzeit schaut jedes Ministerium nur auf sich, aber das ist nicht zielführend. Wir müssen vielmehr Synergien nutzen.“
Antrag im Gemeinderat: CDU will neue Regelung für Baden-Württemberg
Immerhin: Für Heidelberg gibt es etwas Licht am Ende des Eidechsen-Tunnels. Die CDU-Fraktion hat mittlerweile das Heft in die Hand genommen und bei OB Würzner einen Antrag eingereicht. In der Gemeinderatssitzung am 4. Juli soll das Gremium die Umsiedlung von hybriden Eidechsen diskutieren und die Stadtverwaltung damit beauftragen, bei der Landesregierung zu erwirken, dass hybride Eidechsenarten nicht mehr umgesiedelt werden. Wörtlich heißt es in der Begründung: „Bei den hybriden Eidechsen handelt es sich um invasive Arten, die unter Umständen die heimischen Eidechsenarten verdrängen können. Die Umsiedlung von Eidechsen ist mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden, der bei den gebietsfremden Arten nicht gerechtfertigt ist. Hier müssen viel mehr unsere heimischen Arten geschützt werden. Ferner ist zu bedenken, dass es für die Breitstellung von Ersatzhabitaten einen Flächenzugriff auf landwirtschaftlich genutzte Flächen in der Größenordnung von 10 ha geben könnte, die dann künftig nicht mehr für die Lebensmittelproduktion zur Verfügung stehen würden. Das Bundesland Rheinland-Pfalz u.a. geht hier bereits einen anderen Weg und siedelt diese gebietsfremden Eidechsen bei geplanten Baugebieten nicht mehr um.“Jetzt liegt es am Gemeinderat, den Stein Richtung Stuttgart ins Rollen zu bringen. Dabei schwingen zwei Fragen mit: Wie viel Natur- und Artenschutz ist vielleicht des Guten zu viel? Und: Findet sich im mehrheitlich grün-rot-roten Gemeinderat die notwendige Mehrheit?
Autor: Stefan Wagner (HAAS Publishing)